Maximilian Marcoll

Compounds Dezentrales Komponieren1

Compounds ist eine Werkreihe für Instrumente und Elektronik, an der ich seit 2008 arbeite. Alle Stücke der Reihe teilen dasselbe konzeptionelle Fundament, der Kompositionsprozess (→ Kompositionsprozess) sieht in allen Fällen sehr ähnlich aus. Bisher entstanden sechs Stücke unterschiedlicher Besetzungen und zwei Bearbeitungen (eine Solofassung von Compound No.1: CAR SEX VOICE HONKER für Akkordeon und Elektronik, sowie eine Duo- Version des Schlagzeugsextetts Compound No.2: AIR PRESSURE TRAIN TV). Das englische Nomen Compound bezeichnet (unter anderem): einen Stoff (chemische Verbindung – chemical compound), ein eingezäuntes Gelände oder einen eingezäunten Gebäudekomplex.

Derivat

Innerhalb meines Materialnetzwerks (→ Materialnetzwerk), ist ein Derivat ein Material (→ Material), das durch Bearbeitung eines anderen Materials entstanden ist. Es kann sich zum Beispiel um eine Filtrierung bestimmter Aspekte einer Transkription (→ Transkription) handeln, oder um eine Vergröberung, Ergänzung, oder Fortspinnung. Damit ist auch die Grenze von Derivat (→ Derivat ) zu gesetztem Abschnitt fließend.

Ein spezieller Fall ist das Compound-Derivat, eine Ableitung in der sich zwei oder mehrere Materialien zu einem neuen Objekt zusammen schließen. Es handelt sich nicht um eine einfache Mischung mehrerer Primärmaterialien, sondern um ein Resultat aus kompositorischen Prozessen, die, ähnlich einer chemischen Reaktion, zwei oder mehr Elemente zu einem neuen Stoff verbinden. Eine Eigenschaft chemischer Verbindungen ist,

1 Der vorliegende Text wurde im November 2012 in der Ausgabe #93 der Zeitschrift Positionen veröffentlicht. 1/9

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dass sie nicht mechanisch getrennt werden können und von ihren konstituierenden Elementen verschiedene Eigenschaften besitzen. Ebenso können in einem Compound-Derivat die Bestandteile nicht wie bei einer Mischung oder einer Montage einfach herausgehört werden. Es entstehen neue Gebilde die verwandt sind, nicht prinzipiell unähnlich, aber eben nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Durch das Bilden von mehreren Derivaten desselben Ausgangsmaterials kann im resultierenden Stück schließlich der Grad von Nähe zum Original Gegenstand formaler Gestaltung werden, verschiedene Materialien schließen sich zu neuen Strukturen zusammen und es entstehen Klanggebilde, deren profane Qualität auf neue Weise wahrgenommen werden kann. Prinzipiell können Derivate elektronischer oder instrumentaler Art sein.

Kompositionsprozess

Der kompositorische Arbeitsprozess lässt sich anhand des Materialzustands (→ Material) grob in drei Bereiche aufteilen, die sich zwar in der Praxis zumeist durchmischen, aber zugunsten einer systematischen Betrachtung getrennt voneinander behandelt werden können: 1. Materialgenese (→ Materialgenese)

2. Materialdisposition (→ Materialdisposition) 3. Verarbeitung (→ Verarbeitung)

Alle drei Aspekte sind zwangsläufig Teil des Prozesses: Irgendwoher kommt das was klingt (1), auf irgendeine Weise wird es gegenüber allem anderen abgegrenzt betrachtet und gegebenenfalls geordnet (2) und in irgendeiner Form wird es zu einem Stück (3).

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Material

Ein Material ist ein Element im Materialnetzwerk (→ Materialnetzwerk). Es kann sich um eine Aufnahme von etwas handeln (→ Sammeln), um eine Transkription (→ Transkription), um ein Derivat (→ Derivat) oder um einen gesetzten Abschnitt. In der Mehrzahl besteht das Netzwerk aus Aufnahmen und Transkriptionen. Ganz allgemein benutze ich den Begriff Material in Bezug auf das Netzwerk für Irgendetwas, das in der Zeit passiert; meistens Klang; vorzugsweise von überschaubarer Dauer.

Materialdisposition

Der Kontext und die Quellen der Klänge, die ich sammle, sollen nicht verheimlicht werden. Die musique concrète interessiert sich nicht für die Quellen ihrer Klänge und, wenn sie nicht den Versuch unternimmt den semantischen Aspekt des Klangmaterials verschwinden zu lassen, ignoriert sie ihn zumindest, um »den Klang an sich«2 zu hören. Im Gegensatz zu diesem Ansatz bin ich gerade am Zusammenprall verschiedener Kontexte und Bedeutungen interessiert.

Aufgabe meiner Materialdisposition ist es, diesem Zusammenprall Vorschub zu leisten und eine möglichst offene Struktur für Beziehungen zwischen Materialien bereitzustellen. Meine Materialdisposition ist ein Netzwerk (→ Materialnetzwerk), das nach dem Prinzip eines Zettelkastens (→ Zettelkasten) organisiert ist.

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2 Michel Chion, Die Kunst fixierter Klänge, Berlin, 2012, S.75. 3/9

Materialgenese3

Im Gegensatz zu traditionell-zentralistischen Arbeitsweisen, die oft einem Top-Down-Prinzip entsprechen, versuche ich auf so vielen Ebenen wie möglich einen Bottom-Up-Ansatz4 zu verfolgen. Das offene Reagieren auf Vorhandenes als grundsätzlicher Ausgangspunkt für künstlerische Arbeit ist mir wesentlich sympathischer. Zudem ist es einer der Aspekte, die für mich ein »diesseitiges« Komponieren ausmachen.

Prinzipiell bin ich an allem interessiert was tönt. Eine genrebezogene Begrenzung einzuführen kommt für mich nicht in Frage. Stattdessen möchte ich die Musik offen halten für die Verarbeitung von Realitätswahrnehmungen, möchte ich möglichst direkt anknüpfen an intersubjektives Erleben im Alltag. Als Konsequenz folgt für mich daraus das Sammeln (→ Sammeln) aller möglichen akustischen Materialien, die mir begegnen. Der Weg auf dem ich zu meinem Material (→ Material) komme ist also kein genialisches Erschaffen, auch kein Suchen, sondern ein Finden.

Materialnetzwerk

Alle Materialien (→ Material), sowohl Primärmaterial als auch Derivate (→ Derivat), werden in meinem Materialnetzwerk zusammengefasst. Das Netzwerk ist ein Zettelkasten (→ Zettelkasten), der Verbindungen zwischen Materialien abbildet, die über ein Tagging-System aus phänomenologischen Ähnlichkeiten resultieren: Jedem Material werden Tags zugewiesen, Schlüsselwörter, die versuchen, signifikante Eigenschaften zu benennen (zum Beispiel „Puls“,

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Der Begriff ist mir unsympathisch, da er suggeriert, der Künstler würde schöpferisch zu Werke gehen. Für mich ist dies eines der Missverständnisse, die dazu führen, dass am Konzept des geistigen Eigentums so vehement festgehalten wird.

Bei einem Top-Down-Ansatz wird von einer Makrostruktur auf die Details geschlossen. Eine Bottom-Up- Strategie dagegen beginnt mit einer möglichst präzisen Beschreibung von Details, die sich dann zu einer Top- Level-Struktur zusammen schließen.

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oder „Glissando“). Zusätzlich gehören alle Materialien groben Klassifizierungen (Identitäten) an, die meist über die Quellen bestimmt werden und sich in den Titeln der Compound-Reihe wiederfinden. Das Netzwerk ist sowohl Materialsammlung, Verwaltungsinstanz – hier kommen alle Daten zusammen und es werden Beziehungen zwischen den einzelnen Objekten bearbeitet und Verbindungen geknüpft –, als auch Generator, denn die Möglichkeit einer Vereinigung mehrerer Objekte zu einem Compound-Derivat erschließt sich erst durch einen Überblick über bestehende Kompatibilitäten.

Das Materialnetzwerk wächst stückunabhängig, das heißt es werden parallel zur Arbeit an und der Vorbereitung von bestimmten Stücken ständig neue Materialien in das Netzwerk eingegliedert. Auf diese Weise ergeben sich fortlaufend neue Verknüpfungsmöglichkeiten und das Netzwerk ändert ständig seine Gestalt. Das Netzwerk selbst wird schließlich als zweidimensionale Struktur visualisiert (siehe Abbildungen). Eine eigens entwickelte Software übernimmt, neben der Verwaltung des Netztwerks mit seinen Materialien und den zu ihnen gehörenden Dateien, die Anordnung der Materialien und ihrer Verbindungen auf einer durch die Materialklassen begrenzten Fläche.

Resynthese

Der Begriff Resynthese wird im Zusammenhang mit Musik gebraucht, um den Vorgang zu benennen, in dem ein zuvor aus einer Analyse gewonnener Satz parametrischer Daten wieder in Klang verwandelt wird. In meinen Stücken werden Transkriptionen (→ Transkription) meist synchron mit den ihnen zugrunde liegenden Aufnahmen oder elektronischen Derivaten (→ Derivat) gespielt. Die Instrumente bilden dabei keine Strukturen nach, die einer realen Begebenheit nur ähneln. Sie spielen vielmehr die konkrete Begebenheit und werden durch Kombination mit den aus Lautsprechern wiedergegebenen Originalaufnahmen zu einem Teil davon.5

5 Hier besteht ein fundamentaler Unterschied zu dem schon recht alten Kunstgriff der Klangmalerei, in der die 5/9

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Sammeln

Seit mehreren Jahren verlasse ich das Haus nur noch äußerst selten ohne Aufnahme- Equipment. Wann immer etwas in mir ein »musikalisches Hören« auslöst, nehme ich es auf. Ob es sich um andere Musik handelt, die in einer bestimmten Situation besonders erscheint, Klänge des Alltagslebens, Situationen auf Reisen oder medial vermittelte klangliche Inhalte, spielt zunächst keine Rolle. Wichtig ist dabei für mich, dass ich nicht – wie Cage – eine Hörweise einnehme, von der aus sowieso alles schon Musik ist, sondern dass ich die Musik zu mir kommen lasse. Ich entscheide nicht willkürlich was Musik ist, sondern lasse mich von meiner Wahrnehmung leiten. Ich reagiere auf das, was da ist. Erst wenn ein Phänomen in mir eine »musikalische Betrachtung« auslöst, nehme ich es auf. Ähnlich wie die Transkription (→ Transkription) eine Dokumentation der eigenen Wahrnehmung ist, kann also das Materialnetzwerk (→ Materialnetzwerk) als ein Abbild dessen dienen, was meine Wahrnehmung zu einem bestimmten Zeitpunkt angeregt hat.

Transkription

Mit Transkription ist hier das Übertragen von aufgezeichneten Klängen in von InstrumentalistInnen spielbaren Notentext gemeint.
Dabei betrachte ich den Transkriptionsvorgang selbst als kompositorischen Eingriff: Indem ich entscheide, welche Aspekte eines klanglichen Verlaufs übersetzt werden sollen und durch die Gestaltung der konkreten Details, wirkt meine subjektive Wahrnehmung auf den Text ein. Mehr noch, sie kann sogar für Andere wahrnehmbar werden, wenn nämlich die Transkription mit der ursprünglichen Aufnahme verglichen werden kann. In speziellen Fällen kann also bei der Resynthese (→ Resynthese) die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand der Betrachtung werden. Wenn das Transkribieren meine subjektive Wahrnehmung thematisiert, kann sie

Idee eines realen akustischen Phänomens der Hierarchie eines kunstmusikalischen Regelwerkes unterworfen wird (selbst wenn der Hund in Vivaldis Frühling existiert hätte – das System E-Dur gewinnt!).

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selbstverständlich nicht in Transkriptionsautomaten (→ Transkriptionsautomaten) ausgelagert werden.
Nicht nur die Transkriptionen selbst werden zu Material (→ Material) für meine Stücke, sie dienen auch als Ausgangspunkt für Derivate (→ Derivat).

Transkriptionsautomaten

Die Möglichkeit, die subjektive Wahrnehmung herauszufordern, zu betonen und zum Gestaltungsmittel werden zu lassen, ist für mich einer der faszinierenden Aspekte der Transkription als kompositorische Technik. Daher verbietet sich für mich die Benutzung von Transkriptionsautomaten, die aufgrund technischer Parameter Klänge analysieren und versuchen objektiv zu sein. Selbst wenn die Datenerfassung einer FFT-Analyse technisch präziser ist als meine Wahrnehmung: Sie ist etwas völlig anderes und hat mit menschlich- akustischer Mustererkennung und »musikalischem« Hören nicht das geringste zu tun. Statt also Softwareprogramme automatische Transkriptionen generieren zu lassen, habe ich 2010 meinen eigenen Editor (quince) geschrieben und als OpenSource Software veröffentlicht. Er erlaubt mir und zwingt mich geradezu dazu, während des ersten Schrittes des Transkriptionsvorganges, nämlich der Datenerfassung, »mit den Ohren« zu arbeiten und jede Entscheidung manuell und bewusst selbst zu treffen. Darüber hinaus führt die „manuelle“ Bearbeitung des Materials (→ Material) dazu, dass ich es mir aneigne und dadurch viel präziser verwenden kann, als eine automatisch erzeugte Übersetzung.

Verarbeitung

Die Besetzung eines zu schreibenden Stückes wird zum Katalysator der Materialfindung. Beispielsweise legt es der Auftrag, ein Stück für Querflöte mit Glissandomundstück zu schreiben, nahe, eine Suchanfrage nach Materialien mit Glissandi an das Materialnetzwerk

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(→ Materialnetzwerk) zu richten. In anderen Fällen mag es sich etwas komplizierter darstellen, aber die Instrumentation bestimmt maßgeblich die Art der Anfrage an das Archiv. Was dann folgt, ist ein Prozess mit vielen verschiedenen Ebenen. Anfänglich wird ausgewählt, transkribiert. Gegebenenfalls müssen bereits existierende Transkriptionen (→ Transkription) verändert oder erneuert werden, neue Derivate (→ Derivat) werden angefertigt. Da höchstwahrscheinlich neue Verbindungen zwischen Materialien sichtbar geworden sind, gibt es neue Anschlussmöglichkeiten für Compound-Derivate. Aufnahmen werden elektronisch bearbeitet, Reibungen zwischen Materialien erkundet.

Ich schreibe meine Stücke nicht von vorne nach hinten. Stattdessen arbeite ich an vielen Stellen gleichzeitig, bis sie nach und nach zu dem zusammenwachsen, was am Ende des Prozesses das Stück ist.

Zettelkasten

Ein Zettelkasten ist eine selbstgefütterte Suchmaschine, ein befragbares und flexibles Archiv. Das grundlegende Prinzip des Zettelkastens beschreibt Markus Krajewski in seinem Buch Zettelwirtschaft wie folgt: »Die Informationen stehen auf gesonderten, gleichgerichteten und frei beweglichen Trägern bereit, um nach strengen Ordnungsschemata arrangiert weiter verarbeitet und abgerufen zu werden.«6

Das besondere des Zettelkastens liegt in seiner Möglichkeit, den Nutzer im Rahmen einer Suchanfrage mit Zusammenhängen zu konfrontieren, die ihm beim Eingeben der Informationen nicht bewusst waren. »Der Unterschied zwischen der kollektiven Suchmaschine und dem gelehrten Zettelkasten liegt in dessen Kontingenz und der daraus erwachsenen Möglichkeit, gezielte Fragen in eigentümlicher Formulierung an eigenartige

6 Markus Krajewski, Zettelwirtschaft, Berlin 2002, S.10. 8/9

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Anordnungen zu richten.«7 Niklas Luhmann, der dem Zettelkasten zu einiger Berühmtheit verhalf, sah in ihm einen »kompetenten Kommunikationspartner«, der »ein Generieren von Information im jeweils anderen möglich«8 macht. Der Zettelkasten ist ein Rhizom, ein dezentral organisiertes Informationsnetzwerk, dessen Gestalt sich nach seinem Inhalt richtet und ein Gegenentwurf zu binären Abhängigkeitsverhältnissen darstellt, wie sie beispielsweise in Baumstrukturen zu erkennen sind.9

In meinem Fall handelt es sich um ein hybrides System: Einerseits existiert tatsächlich ein physikalischer Zettelkasten, in dem ich Transkriptionen (→ Transkription), ihre Derivate (→ Derivat) usw. aufbewahre. Andererseits ist das Materialnetzwerk (→ Materialnetzwerk) rechnergestützt, das heißt eine speziell dafür entwickelte Software übernimmt die Verwaltung aller Daten und die Verbindung der Materialien, durch die eine Befragung des Archivs möglich wird, die zu Stücken führt (→ Verarbeitung).

Maximilian Marcoll, Berlin 2012

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Ebd., S. 66 f.
Niklas Luhmann, Kommunikation mit Zettelkästen, in: ders., Universität als Milieu, Bielefeld, 1992, S.53.

Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin, 1992, S.12 ff. 9/9